Chinesisches Roulette ist ein Film des deutschen Regisseurs, Autors und Darstellers Rainer Werner Fassbinder. Der Film wurde von April bis Juni 1976 an 36 Tagen gedreht. Drehort war vorwiegend das unterfränkische Schloss Stöckach. Die Kosten beliefen sich auf ca. 1,1 Millionen DM. In sieben Jahren ist es Fassbinders 28. Spielfilm; nach dem Misserfolg von Whity (1971) der zweite, der für ein internationales Publikum produziert wurde. Die Uraufführung des Films war am 16. November 1976 beim Filmfest in Paris. Am 22. April 1977 erfolgte die Erstaufführung in der Bundesrepublik Deutschland. Der Film zeigt die kühle Rache eines an Kinderlähmung erkrankten Mädchens, das sich von ihren Eltern gehasst fühlt und Freude daran hat, die Heuchelei ihrer Mitmenschen zu entlarven.
Handlung
Das wohlhabende Paar Ariane und Gerhard gibt vor, das Wochenende getrennt geschäftlich zu verbringen. Ihre 14-jährige gehbehinderte Tochter Angela bleibt bei der stummen Erzieherin. Tatsächlich trifft sich der Vater mit seiner Pariser Geliebten Irene. Sie fahren auf das Schloss der Familie, wo die Bedienstete Kast und ihr Sohn Gabriel den Haushalt führen. Überraschend trifft Gerhard dort auf seine Frau mit ihrem Geliebten Kolbe.
Nach kurzem Erstaunen arrangieren sich die vier lachend miteinander und beschließen, das Wochenende gemeinsam im Schloss zu verbringen. Die Haushälterin erklärt dem Hausherrn, sie hätte die Begegnung verhindert, hätte die Tochter nicht am Telefon gesagt, dass seine Frau nicht kommen würde. Insgeheim freut sie sich, dass die Heimlichtuerei der Eheleute auffliegt.
Nach dem Abendessen liest Gabriel den Schlossbesuchern wie schon bei anderen Gelegenheiten stolz aus der selbst geschriebenen Prosa vor. Da kommt auch die Tochter Angela mit der Erzieherin Traunitz ins Schloss. Als der Mutter klar wird, dass sie die Begegnung arrangiert hat, will sie auf Angela losgehen. Gerade noch hält der Vater sie davon ab.
Abends erklärt Angela Gabriel, sie sei ein Krüppel, und die Eltern würden sie dafür hassen. Als sie vor 11 Jahren erkrankt sei, habe ihr Vater das Verhältnis begonnen. Seit die Ärzte der Mutter vor 7 Jahren klargemacht hätten, dass ihre Krankheit nicht heilbar wäre, sei sie mit ihrem Geliebten zusammen.
Am nächsten Morgen schaut Angela mit anklagendem Blick in die Zimmer der Eltern und ihrer Geliebten. Der Haushälterin wirft sie vor, eine Kupplerin zu sein. Als die Erwachsenen sich fragen, wie sie den Tag verbringen, schlägt Ariane vor, eine Schießübung zu machen. Als Gerhard ihr eine Pistole reicht, zielt sie auf ihre Tochter vor dem Fenster. Gerhards Geliebte hält Ariane ab zu schießen.
Angela wünscht, dass alle zusammen zu Abend essen. Danach drängt sie darauf, „Chinesisches Roulette“ zu spielen: Ein Ratespiel mit zwei Gruppen, bei dem die eine Gruppe durch Fragen herausfinden muss, welche Person die andere Gruppe ausgewählt hat. „Zum Beispiel: Wenn die Person ein Auto wäre, welches Auto wäre sie dann?“ Die Fragen stellen die Mutter, die Haushälterin und die beiden Geliebten; Antworten geben Angela, ihre Erzieherin, der Vater und Gabriel. Nachdem jeder zwei Fragen gestellt hat und eine letzte Frage aussteht, erinnert Gerhard Ariadne an „unsere berühmte Frage“, die die Mutter daraufhin stellt: „Was wäre die Person im dritten Reich gewesen?“ Die Antwort der Tochter ist klar: „KZ-Leiterin von Bergen-Belsen“.
Mit der Auflösung tut sich die Gruppe scheinbar schwer und entscheidet sich für die Haushälterin. Als die Tochter der Mutter sagt, dass sie selbst gemeint war, und lachend den Raum verlässt, greift die Mutter zur Pistole und schießt auf – Angelas geliebte Erzieherin Traunitz. Nach einem Aufschrei geht Angela bedrückt die Treppen hinunter. Gabriel sagt ihr, es sei nur ein Streifschuss gewesen, und fragt, ob sie von der Mutter getötet werden wollte. Da erklärt Angela ihm verächtlich, sie wisse seit zwei Jahren, dass er nicht selber schreibe, sondern alles stehle. Kurz darauf fällt im Schloss ein weiterer Schuss.
Hintergrund
Idee und Realisierung
Laut Michael Ballhaus hatte Fassbinder Fördergelder bekommen und mit ihm über einen neuen Film beraten. Sie hätten sich zunächst die Schauspieler überlegt, und Ballhaus habe ein Haus in Franken vorgeschlagen, das er für einen schönen Drehort hielt. Die drei Monate zwischen Idee und Fertigstellung seien dann für Ballhaus das Kürzeste gewesen, was er je in seiner Laufbahn erlebt habe. Fassbinder sei 14 Tage nach Paris gefahren und anschließend mit dem Drehbuch zurückgekommen. Eigentlich habe Ballhaus vermutet, dass das Drehen eine Katastrophe würde, da Fassbinder eigentlich jede Nacht ausging und immer Menschen um sich haben musste – „und da gab's nichts weit und breit (…), aber dann passierte genau das Gegenteil.“ Alle hätten in dem Haus zusammen gewohnt. Fassbinder habe gefühlt, dass er „sozusagen eine Familie hatte, er wollte da gar nicht mehr weg.“
Fassbinder sagt, der Film sei „in einer Atmosphäre entstanden, die ich als eine der Positivsten empfand, in der ich jemals gedreht habe.“ Alle hätten in einem Haus gelebt und „dieselben Spiele abends und die ganze Nacht durchgespielt, die es im Film gibt.“ Dadurch habe sich „viel an persönlichen Beziehungen verschoben, und das ist in die Arbeit eingegangen.“|
Laut Margit Carstensen ging es in dem Spiel darum, die Wahrheit zu sagen, auch wenn es weh tat. Derjenige, der gerade „als Opfer“ dran war, wurde mit präzisen Fragen in die Enge getrieben, bis die Wahrheit heraus war, wobei sich Fassbinder nicht ausgenommen habe.
Alexander Allersons Rolle wird von Erik Schumann gesprochen.
Musik
Musik spielt im Film eine große Rolle zur Untermalung der Gefühle, die aus den Blicken der Beteiligten sprechen, wenn die Kamera sie aus vielen Perspektiven umrundet. In einer Szene wechselt der Musikstil, als Angela ihre Erzieherin Traunitz mit Krücken zu dem Lied „Radioactivity“ der seinerzeit populären Elektropop-Gruppe Kraftwerk tanzen lässt.
Peer Raben sagt auf die Interview-Frage, ob es parallel zur formalen und handwerklichen Weiterentwicklung der Grundthemen Fassbinders so etwas auch in der Musik gegeben habe: „Dazu fällt mir Chinesisches Roulette ein. Da hat er Szenen so gedreht, als entsprächen die Bewegungen der Personen einer Ballett-Choreographie. Ich konnte dann dazu eine Ballett-Musik schreiben. Das ergänzte sich so gut, dass er so etwas später immer wieder machen wollte. Es gibt in `Querelle´ Szenen, die zu laufender Musik gedreht worden sind.“
Kamera
Nach Einschätzung von Michael Ballhaus entstanden in der Zeit drei für ihre Zusammenarbeit interessante Filme. Nach und nach habe sich ein großes Verständnis zwischen ihnen eingestellt, so dass man gewusst habe, was man miteinander machen konnte. In Chinesisches Roulette „wurde die Kamera sozusagen zu einer Person, zu einem Darsteller“. Man habe „eine Bildsprache entwickelt, die sehr genau und sehr interessant war“. Er habe bei dem Film „unglaublich viel gelernt“, und es sei „erstaunlicherweise“ eine sehr harmonische Zusammenarbeit gewesen.
Zitat im Film
Angela zitiert ihrer Erzieherin Traunitz und der Haushälterin Kast beim Frühstück aus den Briefen von Rimbaud:
Der erste Satz kommt auch in Schatten der Engel vor, der ebenfalls 1976 entstandenen Verfilmung von Fassbinders Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod. Fassbinder bat Daniel Schmid den Film zu drehen und sagte ihm zur Begründung, warum er nicht selbst Regie führen wolle: „Das kann ich nicht, ich weiß gar nicht, was das ist.“ Daniel Schmid bezog das auf seine Beziehung zu dem Stück, „dass er es, weil es einfach aus ihm herausgekommen ist, als Film eben nicht selber machen wollte“.
Fassbinder über den Film
Kritiken
Weitere Kritiken:
- Brigitte Jeremias, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. November 1976.
- Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau, 25. November 1976.
- Peter W. Jansen, Vorwärts, 28. April 1977.
- Sven Hansen, Die Welt, 13. Mai 1977.
- Sebastian Feldmann, film-dienst, 24. Mai 1977.
- Norbert Jochum, Tagesspiegel, 14. Mai 1977.
- Günther Kriewitz, Stuttgarter Zeitung, 29. April 1977.
- Eckhart Schmidt, Deutsche Zeitung / Christ und Welt, 29. April 1977.
- Balts Livio, Neue Zürcher Zeitung, 19./20. Mai 1977.
- Edgar Wettstein, Zoom-Filmberater, 11/1977.
- Rolf Wiest, Kölner Stadt-Anzeiger, 18./19. Juni 1977.
Literatur
- Es ist besser, Schmerzen zu genießen als sie zu erleiden, Rainer Werner Fassbinder über Satansbraten, Chinesisches Roulette, Despair und zwei Projekte, Gespräch mit Christian Braad Thomsen (1977), in: Fassbinder über Fassbinder, Robert Fischer (Hrsg.), Verlag der Autoren, Frankfurt am Main, 2004, ISBN 3-88661-268-6.
Weblinks
- Chinesisches Roulette bei IMDb
- Chinesisches Roulette, Film- und Hintergrundinformationen, Rainer Werner Fassbinder Foundation, Berlin
- Chinesisches Roulette bei filmportal.de
- Chinesisches Roulette bei Kino.de
- Chinesisches Roulette – Rebellion und Reaktion Ausführliche Kritik von Ulrich Behrens bei Filmzentrale.de
- Fassbinder über seinen Film Chinesisches Roulette Presseheft, Filmverlag der Autoren, zitiert nach FassbinderFoundation.de
- Chinesisches Roulette Trailer bei New-Video.de
Einzelnachweise




